Besuch im Tagestreff

Ein langweiliger Nachmittag oder eine unglaublich wertvolle Erfahrung? Was ich während eines Nachmittags mit an Demenz erkrankten Menschen alles erlebe.

Es ist halb zwei, ich stehe vor dem Tagestreff in Thun. In dem Gebäude mit Flachdach erwartet mich eine Tagesstätte für Menschen, die an einer Demenz erkrankt sind. Etwas nervös bin ich und überlege mir einmal mehr, was mich wohl erwartet. Ich drücke die Klingel und bald darauf geht die Tür auf. Mirjam begrüsst mich herzlich und zeigt mir den Weg zu den Räumen des Treffs. Sie arbeitet hier als Betreuerin und verbringt den Tag mit an Demenz erkrankten Menschen. Mit ihr und Doris, ihrer Chefin, werde ich den Nachmittag hier verbringen, um mehr über den Umgang mit Menschen, die an einer Demenz erkrankt sind, zu erfahren.

Foto: Lukas Beeli
Foto: Lukas Beeli

Als ich die Räumlichkeiten des Treffs zum ersten Mal betrete, wirkt der Platz wie eine gewöhnliche Wohnung im Grossformat. An einem langen Tisch in der Mitte sitzen zwei ältere Personen, die Tischsets putzen. Auf verschiedenen Sesseln und Sofas sitzen Menschen und ruhen sich aus. Trotz der Müdigkeit während der Mittagspause interessieren sich die älteren Leute brennend für mich, den neuen Gast. Nach kurzem gegenseitigen Vorstellen finde ich mich schnell mit ein paar Gästen auf Sesseln und Sofas wieder, direkt verstrickt in ein Gespräch über die Schule.

Alltag mit Demenz

Mehr als 100 verschiedene Krankheiten umfasst der Begriff Demenz. Alle von diesen beeinträchtigen die Funktion des Gehirns. Sie können auftreten, wenn man älter wird, und in ihrem Verlauf erschweren sie den Alltag immer stärker. Zuweilen so stark, dass ein Weiterleben wie gewohnt nicht mehr möglich ist. In der Schweiz gibt es circa 1’500 Altersheime. Sie bieten ein Zuhause für Pflegebedürftige. Zum Beispiel im Falle einer Demenzerkrankung, wenn es keine Option mehr ist, dass sich Familienmitglieder um sie kümmern. Ein Mittelweg: der Tagestreff. «Unser Angebot ist eine Entlastung für die Angehörigen», erklärt mir Mirjam. Oft sei der Tagestreff jedoch nur eine temporäre Lösung. Sobald die Pflegebedürftigkeit zu gross wird, ist der nächste Schritt eine Pflegeinstitution. Auf den ersten Blick fällt einem an den Gästen im Tagestreff nichts Aussergewöhnliches auf. Eine Frau erzählt mir von ihrer Kindheit, ein anderer Gast strickt auf einem Stuhl sitzend und der Mann neben mir auf dem Sofa gibt ein witziges Sprüchlein über seine Heimat, das Appenzellerland, zum Besten. Schon nach den ersten paar Minuten Gespräch merke ich, wie sehr ich die alten Menschen unterschätzt habe. Wie sich schnell herausstellt, stechen sie mich mit ihren Geografiekenntnissen bei Weitem aus. Auch wie viel sie über alle möglichen Dialekte wissen, ist umwerfend. Ich habe ein etwas schlechtes Gewissen. Mein Vorurteil von einem langweiligen Nachmittag mit vergesslichen Menschen hätte nicht falscher sein können.

«Wir sind die, die immer vorausschauen müssen.» Mirjam vom Tagestreff Thun

Wissenschaftler*innen haben viele Arten von Medikamenten zur Behandlung von Demenz erforscht. Manche reduzieren den Schaden von Demenz, jedoch ist leider keines davon auch nur annähernd heilend. Bisher können Medikamente gegen Demenz nur entweder den Krankheitsverlauf in bestimmten Stadien verlangsamen, oder die Symptome der Krankheit behandeln. Ein Beispiel für das Erstere ist Lecanemab. Es ist ein Immuntherapie-Antikörper-Medikament, das in den USA hergestellt wird und den Krankheitsverlauf bei Einnahme im Frühstadium verlangsamt. In der Schweiz ist Lecanemab nicht noch nicht zugelassen. Es arbeitet mit dem körpereigenen Immunsystem zusammen, um Amyloid-Proteinablagerungen aus dem Gehirn von Menschen mit Alzheimer, eine Form von Demenz, im Frühstadium zu entfernen. Man nimmt an, dass diese amyloiden Proteinansammlungen für Gehirnzellen toxisch sind, wodurch diese krank werden und schliesslich absterben, was zu den Symptomen der Alzheimer-Krankheit führt. Das Entfernen der Proteinablagerungen reduziert den Schaden, der dem Gehirn zugefügt wird. Das verminderte Absterben der Proteinansammlungen führt dazu, dass die Krankheit langsamer fortschreitet. Medikamente, die Symptome von Alzheimer behandeln, sind zum Beispiel Donepezil Aricept und Rivastigmine Exelon. Die genannten Mittel halten den Krankheitsverlauf nicht an, sie helfen jedoch bestimmten Chemikalien im Gehirn dabei, Nachrichten zwischen Gehirnzellen zu transportieren. So versucht man, das Erinnerungs- und Merkvermögen zu verbessern. Leider können diese Wirkstoffe zu Nebenwirkungen wie Erbrechen, Appetitlosigkeit und Übelkeit führen. Auf diese Medikamente alleine ist jedoch bei Weitem kein Verlass. Auch wenn sie je nach Situation einen Effekt zeigen, bleibt die Unterstützung, die sie bieten sollen, unsicher. Dies liegt an den möglichen Nebenwirkungen und dem oft ungewissen Wirkungsgrad. Aus diesem Grund ist eine gute soziale, pflegerische Betreuung ein wesentlicher Bestandteil des Lebens mit Demenz.

Programm für die Gäste

Wie Mirjam mir erklärt, geht es nach der Mittagspause weiter mit Programm. Nach dem Essen ist die Situation immer etwas kritisch. Die Gäste gehen dann oft zur Garderobe und wollen sich auf den Weg machen. Sie meinen dann, es wäre an der Zeit heimzugehen, oft an Orte, wo sie gar nicht mehr wohnen. Das Team kennt solche Situationen mittlerweile und weiss, was zu tun ist. «Wir sind diejenigen, die immer vorausschauen müssen», betont Mirjam. Die beste Lösung sei es, ein mögliches Problem schon im Vorhinein zu erkennen und sich darum zu kümmern. Wenn mal etwas Ungeplantes passiere, solle man dies mit Humor nehmen. Das sei bei kleinen Pannen das Beste, sagt Mirjam.

«Am Abend komme ich immer sehr erfüllt nach Hause.» Mirjam vom Tagestreff Thun

Um zwei Uhr ist es so weit: Es geht weiter mit dem Programm. Auf dem Tisch liegen Scheren, Schnur, Stoff und Watte. Passend zur Osterzeit machen wir kleine Hühnchen aus Stoff. Mirjam näht mit einer Gruppe die Hühnchen zusammen, ich mache mit einem Herrn die Kordeln für die Beine und die restlichen Gäste dekorieren mit Doris Ostereier. Wieder einmal erstaunen mich die älteren Leute. Sie reden über den ganzen Tisch miteinander über die verschiedensten Sachen und arbeiten gleichzeitig an ihren Hühnchen. Ich muss etwas schmunzeln und denke an meine Schulklasse. Anders als die Gäste im Tagestreff können wir schwer gleichzeitig schwatzen und arbeiten.

Foto: Lukas Beeli
Foto: Lukas Beeli

Wie ich später beim Zvieri merke, waren einige der Gäste im Tagestreff früher Schneiderinnen. Sie scheinen, noch immer Freude am Nähen zu haben. Von Mirjam lerne ich, dass das Nachmittagsprogramm oft so aussieht. «Wir basteln, werken, handarbeiten oder wir spielen auch Spiele.» Sie muss lächeln: «Sehr oft spielt eine Gruppe auch Jass.» Alles Sachen von früher, an die sich die alten Leute noch erinnern, mit welchen sie früher gelebt haben. Das kennen sie und so schnell macht ihnen bei vertrauten Themen wie dem Nähen oder der Schweizer Geografie niemand etwas vor.

Mirjam im Tagestreff

Schon während ein paar Stunden habe ich im Tagestreff eine interessante, überraschende, tolle Erfahrung nach der anderen gemacht. Alleine in der Zeit habe ich einiges erlebt, das mich zum Nachdenken bringt. Wie Mirjam damit wohl umgeht, frage ich mich. Ich bin gespannt, als sie mir ihre Seite des Berufs schildert. «Ich arbeite sehr, sehr gerne im Tagestreff», lässt sie mich wissen. «Am Abend komme ich immer sehr erfüllt nach Hause.» Noch mehr merke ich, wie sehr ihr die Arbeit im Treff gefällt, als sie mir beschreibt, wie gerne sie auf einen gelungenen Tag zurückschaut. Manchmal bedauert sie es ein wenig, dass es schon wieder vorbei ist, und sie ist schon wieder voller Freude und Ideen für das nächste Mal. Es sei einfach etwas Schönes, meint Mirjam, einen Tag voller Aktivitäten mit den Menschen zu meistern und zu geniessen und die Leute dann am Abend nach einer tollen Zeit wieder gehen zu lassen.

Foto: Lukas Beeli
Foto: Lukas Beeli

Zum Arbeitsalltag im Tagestreff gehört es für Mirjam dazu, dass sie sich vorbereitet. Zuhause übt sie Lieder auf der Ukulele, um sie im Treff zu singen. Oder sie sammelt Ideen und Material für ein neues Werkprojekt. «Ich denke, je besser ich vorbereitet bin, desto besser sind für mich auch die Tage.» Was ihr am Tagestreff speziell Spass macht und sie immer wieder aufs Neue fasziniert, ist, wie lebendig es zu und her geht und was alles möglich ist mit den Gästen. «Es gibt kein Rezept in der Demenzpflege», erklärt sie, «manchmal geht etwas, das vorher so nicht ging. Man muss einfach immer wach sein.» Was Mirjam mir erzählt, bringt mich noch mehr zum Nachdenken. Ich bin fasziniert von den Ansichten, die sie von ihrer Arbeit hat, und noch viel mehr von dem Enthusiasmus, den sie mit sich bringt.

Kaffee und Kuchen

So, die Hühnchen sind genäht. Beim Kochen des Mittagessens haben Mirjam und Doris mit den Gästen ein Dessert gemacht und das essen wir jetzt. Eine Frau geht um den Tisch und fragt uns, wer Tee und wer Kaffee will. Beim Tassen Rausnehmen merkt sie, dass etwas nicht aufgeht, und fragt nochmal nach. Lustigerweise wünschen sich etwa die Hälfte der Gäste ein anderes Getränk als gerade noch. Wer zuerst noch gemeint hat: «Oh, Kaffee kann ich gar keinen trinken, ich nehme gerne Tee», sagt jetzt überaus sicher und überzeugt: «Ich nehme gerne einen Kaffee.» Ein paar Minuten später sind die Getränke auf dem Tisch und alle geniessen Kaffee und Kuchen. Oder eben Tee und Kuchen. In Gedanken lächle ich ein wenig über die Leute und denke: Bei einigen Gästen merkt man schon, dass sie dement sind. Im nächsten Moment ertappe ich mich mit meinen Vorurteilen. Ich frage mich: Ja und? Selten habe ich mit Menschen, die ich nicht kannte, so eine tolle Zeit verbracht, so viel von ihnen gelernt und so viel Neues über mich selbst erfahren wie an diesem Nachmittag. Nach dem Dessert und weiteren Gesprächen über die Thuner Seespiele, den Schneiderberuf und die Gegend um den Tagestreff singen wir noch ein wenig. Mirjam begleitet uns auf der Ukulele. Das Musizieren verbreitet eine Riesenfreude. Als um fünf Uhr die Liebsten der Gäste kommen, um sie abzuholen, hatten wir alle einen wunderbaren Nachmittag.

Foto: Lukas Beeli
Foto: Lukas Beeli
Kommt dir auf die Schnelle gerade ein spezieller Zwischenfall in den Sinn? Etwas, das ganz unerwartet passiert ist und euch geblieben ist? Letzte Woche zum Beispiel. Eine Frau und ein Mann sassen sich gegenüber an einem Tisch und schmolzen auf einer Herdplatte Schokolade. Der Mann hatte in der Pfanne gerührt und die Frau hatte zugeschaut. Plötzlich hielt die Frau einfach so den Finger in die Pfanne, streckte ihn dem Mann hin und sagte: «Komm, versuch, ist es gut?» Der Mann nahm den Finger dann in den Mund. Das war sehr, sehr lustig. Oft passiert das so blitzschnell. Auch beim Zuschneiden des Stoffes kann es vorkommen, dass ich den Stoff schon geschnitten habe und dann erwischt jemand die Schere und verschneidet den Stoff dann nochmal. Etwas anderes, das auch oft unerwartet passiert, kommt viel vor, wenn wir einen Krug zu nah bei einer Person hinstellen. Dann will die Person sich selber einschenken und tut das einfach, bis alles überläuft. Solche Sachen sind dann sehr unvorhergesehen, weil wir denken, wir haben das doch genug weit weg von ihr hingestellt. Falls ihr jetzt eine Situation mal nicht rechtzeitig erkennt und es schon zu spät ist, was macht ihr? Ich denke immer: die Ruhe bewahren. Am besten mit Humor. Zum Beispiel kann man sagen: «Ou, jetzt ist gerade etwas schiefgegangen». Je nach Situation ist es auch gerade sehr gut, die Person anzusprechen. Ich glaube, wir versuchen, das wirklich mit viel Humor zu nehmen.

Autoren: Nendra, Riccardo, Lukas