Franz Kafkas unfreiwillige Berühmtheit
Während den letzten Wochen durchlief unsere Klasse etwas, an dem die wenigsten Jugendlichen unserer Schulstufe vorbeikommen: Wir setzten uns mit Franz Kafka auseinander. Im Rahmen des Unterrichts lasen wir unter anderem eines seiner bekanntesten Werke – Die Verwandlung – und besuchten einen Vortrag des Biographen Reiner Stach. Neben einigen Interessanten Punkten zu Kafkas Biographie, zum Beispiel seine Tuberkuloseerkrankung oder die belastende Beziehung zu seinem Vater, habe ich vor allem etwas festgestellt. Der Autor aus Tschechien wird an den verschiedensten Orten gefeiert und kriegt eine Menge an Aufmerksamkeit. Texte wie ‘Der Prozess’, ‘Die Verwandlung’ oder ‘Das Urteil’ werden oft mit Schulklassen gelesen und besprochen und sind auch aus dem deutschen Original in diverse weitere Sprachen übersetzt worden. Der Schulunterricht markiert jedoch bei Weite nicht das Ende des Rahmens, in dem Menschen sich mit dem Werk des Autors auseinandersetzen. So gibt es Menschen – wie zum Beispiel Reiner Stach – die sich jahrelang professionell mit Kafka beschäftigen. Herr Stach erforscht die verschiedensten Aspekte von Kafkas Leben und versucht immer wieder aufs Neue, den Schriftsteller zu verstehen. Unter anderem hat der Biograph mehrere Bücher zu Franz Kafkas Werk und Leben veröffentlicht und gilt als DER Kafka-Experte. In diesem Jahr findet Kafkas 100. Todestag statt und 2024 wird als das «Kafka Jahr» bezeichnet. Sogar in den sozialen Medien macht die Begeisterung für den Tschechen keinen Halt. In Form von Zitaten aus seinen Texten oder Memes zu Gregor Samsa, der Hauptfigur aus dem Werk ‘Die Verwandlung’, findet Franz Kafka auch in Kurvideos auf TikTok oder in Facebookgruppen Einzug.
In diesen Deutschblogs geht es darum, Themen aus dem Unterricht nicht nur wiederzugeben, sondern zum Beispiel auf ein neues Themenfeld zu übertragen, für sich selber weiterzuentwickeln. Das Ziel besteht darin, aufzuzeigen was wir als Klasse nun mit den Informationen aus dem Unterricht machen. Bezüglich dieses Blogs zu Kafka stellte das für mich eine unerwartete Hürde dar. Auch nach einigen Versuchen, eine Art Konzept für meinen Blog zu fassen, sass ich ratlos vor einem Blatt Papier. Anstelle einer Erkenntnis, warum dieser Kafka denn jetzt so brillant ist, anstelle einer Faszination und einem «Schuppen von den Augen Fallen» fühlte ich eher Unverständnis, Verwirrung. Die Begeisterung für Kafka, der ich in vollen Vorlesungssälen und an allen möglichen Orten im Internet begegnet war, teilte ich irgendwie einfach nicht. Vielleicht habe ich während des Unterrichts und Herr Stachs Vortrag einfach nicht aufmerksam genug zugehört und mitgedacht, dachte ich mir. Vielleicht hätte ich ‘Die Verwandlung’ einfach sorgfältiger lesen müssen. Ich konnte beim besten Willen nicht einsehen, wieso jetzt genau dieser Kafka ein so aussergewöhnlicher und unglaublicher Autor sein soll. Ja, mir fielen beim Lesen gewisse Merkmale auf, aber einen für mich ausschlaggebenden Unterschied zu anderen Schriftstellern fand ich nicht.
Meine Verwirrung über den Rummel um Franz Kafka ist wahrscheinlich leicht zu erklären. Offensichtlich reichen einige Lektionen Unterricht und eine halbherzige Anwesenheit in einer Vorlesung nicht aus, um einen mysteriösen Autor wie Kafka vollkommen – oder vielleicht nicht mal im Ansatz – zu verstehen. Jedoch kann ich auch aus einem zweiten Grund nicht nachvollziehen, wieso Kafka so viel Aufmerksamkeit geschenkt bekommt. So war es sein letzter Wille, dass seine übrigen Werke verbrennt werden sollten. Seine Arbeit stellte den Autor nicht zufrieden und er bat seinen besten Freund, Max Brod, übrige Entwürfe und Fassungen zu vernichten. Anstatt den letzten Wunsch seines Freundes zu achten, publizierte Brod jedoch die restlichen Texte von Kafka und machte so einen entscheidenden Schritt zu dessen heutiger Berühmtheit. Der grösste Teil von Kafkas Erfolg basiert also auf der Missachtung seines letzten Willens. Mit diesem Hintergrund stelle ich mir die Frage, ob unsere Interaktion mit Kafka und seinem Werk nicht auf eine Art respektlos ist. Als kranker Schriftsteller vor seinem Tod wünschte sich Franz Kafka einfach nur, dass seine Werke – die ihm nicht gefielen – nicht gelesen werden. Diesen Wunsch missachtend werden heute trotzdem verschiedenste Kafka Texte gelesen, interpretiert und diskutiert. Private Briefe an Familie und Freunde werden genau unter die Lupe genommen und analysiert. Hätte ich selber Texte geschrieben, mit denen ich nicht zufrieden bin, und läge im Sterben, so wünschte ich mir, dass es mir nicht ergeht wie Kafka. Das Szenario von Menschen, die nach meinem Tod eine schon fast geheime Seite von mit kennenlernen, die ich nicht teilen wollte, wäre vielleicht meine grösste Furcht. Deswegen tut mir Franz Kafka leid, auch wenn und gerade weil er von so vielen gefeiert wird.